Aufmerksamkeit ist heutzutage unser
kostbarstes Gut. Im realen und virtuellen Alltag wird mit allen Mitteln um
unsere Aufmerksamkeit gebuhlt, und erklärtes Ziel von Social Media und Online
Plattforen ist es, die Nutzer möglichst lange interessiert und engagiert zu
halten, um die Werbeeinnahmen zu erhöhen. (Netflix Documentary «The social dilemma»). Unlängst
bestehen Marketingteams aus Psychologen und Neurowissenschaftler, welche die
neuesten Erkenntnisse zu Aufmerksamkeit in öffentlichkeitstaugliche Konzepte
einbetten. Leider sind aber auch die Folgen dieser unsteten Entwicklung längst
bekannt: Das Hijacking unserer Aufmerksamkeit funktioniert derart gut, dass es
zu Suchtverhalten führt, mit Nebenwirkungen wie Entzugserscheinungen,
Konzentrationsproblemen, Bildung von Meinungs-Bubbles, Realitätsentfremdung,
sozialer Isolation und abnehmender Selbstregulationsfähigkeit. Natürlich nutzen
die fleissigen Forscher genau diese Schwäche gezielt aus und bieten
massgeschneiderte Produkte online an, welche wiederum die Erlösung von den
selbst kreierten Problemen verspricht. So ist eine perfekte – sich selbst
nährende (oder sollte ich sagen: zerfleischende?) – Konsumgesellschaft geschaffen
worden, in der ein artifiziell hergestellter Mangel eine Nachfrage nach
Produkten generiert, die wiederum den Mangel verstärkt.
Als Psychologe und Psychotherapeut
möchte ich den Fokus hier aber auf die Psychologie legen, und insbesondere auf
die wunderbaren positiven Eigenschaften von Aufmerksamkeit im
zwischenmenschlichen Kontakt.
Ich spreche im Titel absichtlich vom
Geschenk der Aufmerksamkeit, und nicht von der Macht oder der Fähigkeit. Denn
ich erachte es als ein Geschenk, wenn man im persönlichen Kontakt jemandem
seine Aufmerksamkeit schenkt. Das beinhaltet mehrere Faktoren:
- Ich schenke Dir meine Aufmerksamkeit in diesem Moment, ohne gleich etwas dafür zu erwarten. Ich schenke sie Dir, weil ich mich für Dich interessiere, und in diesem Moment für nichts Anderes.
- Ich bin in diesem Moment voll präsent im Moment und beschäftige mich mit nichts anderem. Das ist wahre Achtsamkeit.
- Ich bin voll im Modus des Empfangens, Zuhörens, Aufnehmens, Nachvollziehen und empfange alles mit einem freundlichen Wohlwollen, ohne zu bewerten oder zu urteilen.
- Damit stelle ich alle meine persönlichen Bedürfnisse zurück, und wende die Konversation nicht bei der ersten Gelegenheit auf meine eigene Person, Gedanken und Bedürfnisse zurück.
- Ich kultiviere damit eine Haltung des Zuhörens, Akzeptierens und der Wertschätzung. Das bedeutet nicht, dass ich allem zustimme, sondern dass ich die Haltung vertrete, dass die Person, der ich zuhöre, gute Gründe hat für ihr Verhalten und Empfinden – unabhängig davon, ob ich diese verstehe oder nicht. Das ist eine Haltung von Respekt, Akzeptanz und gegenseitiger Würde. Dies ist auch die Grundhaltung der humanistischen Tradition.
Je mehr wir unsere Aufmerksamkeit in der
oben beschriebenen Art pflegen, wie oben beschrieben pflegt, umso mehr wird
sich eine dreidimensionale, erfüllende und lebendige Realität eröffnen. Menschen
in unserem Umfeld werden diese Zugewandtheit und Achtsamkeit bemerken, und es
wird automatisch zu einer Verlangsamung des Lebens kommen. Denn Monotasking (als
Gegensatz zum Multitasking) verlangsamt und intensiviert die Erfahrung. Diese Haltung
können wir natürlich auch uns selbst gegenüber praktizieren: So können wir Selbstakzeptanz
und Selbstrespekt üben, was zu mehr Authentizität führen wird.
Der meiner Meinung nach wichtigste
Einsatzbereich für das Geschenk der Aufmerksamkeit ist der Umgang mit unseren
Kindern oder jungen Menschen. Denken Sie zurück an die eigene Kindheit. Manchmal
gibt es nichts Wichtigeres als etwas teilen zu können und zu spüren, dass das Gesagte
beim Gegenüber ankommt und gehört wird. Wenn wir nicht gleich ins «Tipps-Geben»
oder «von eigenen Erinnerungen erzählen» rutschen, können wir dem Gegenüber
einen Resonanz-Raum geben und uns in ihre Welt begeben. Die Person wird es sicherlich
zu schätzen wissen und früher oder später das Geschenk von sich aus
retournieren.
Ich wünsche allen Leser*innen viel Neugier beim Ausprobieren!