Montag, 25. April 2022

Traumatherapie: Fallkonzeption nach EMDR

Die Planung und Konzeption einer Traumatherapie ist äusserst komplex und vielschichtig. Daher bin ich immer froh um Strukturen und Faktoren, die Orientierung geben können. In diesem Zusammenhang habe ich die Herangehensweise, wie sie im EMDR (Eye movement desensitization & reprocessing) praktiziert wird, als sehr hilfreich empfunden. Bevor ich genauer darauf eingehe, möchte ich aber die wohl einfachste Unterteilung einer Traumatherapie als Ausgangslage nehmen. Diese besteht aus den drei Phasen:

  1.  Stabilisierung
  2. Traumaverarbeitung (Exposition) und 
  3. Integration. 
In der Stabilisierungsphase müssen die Voraussetzungen erarbeitet werden, dass eine Konfrontation mit traumatischen Inhalten erfolgreich stattfinden kann. Dazu gehören die Fähigkeit, sich im Hier und Jetzt mit sich selbst verbinden zu können und seine - insbesondere negativen - Gefühle wahrnehmen und aushalten zu können ohne zu dissoziieren. Bis heute suche ich nach einem geeigneten Wort für diese Fähigkeit: 'Resilienz' oder 'emotionale Schwingungsfähigkeit' kommen nahe, doch vielleicht am besten illustriert das Spielzeug "Hoberman's Sphere" diese Fähigkeit: 
Es lässt sich wie ein lebender Organismus expandieren und kontrahieren, wobei die Kontraktion als eine chronifizierte Folge eines Traumas verstanden werden kann. Die vorsichtige Expansion symbolisiert hingegen die Lösung aus der Erstarrung und damit das Wieder-Lebendig-Werden. Erst wenn unser Organismus wieder eine gewisse Lebendigkeit erlangt hat, kann er Spannung von selber abbauen und damit Erlebtes verarbeiten. Und das muss langsam, tröpfchenweise erarbeitet werden. Peter Levine benutzt dieses Spielzeug regelmässig, um diesen Prozess in seiner Somatic Experiencing Methode darzustellen. Kommen wir jedoch zurück auf die notwendigen Lerninhalte der Stabilisierungsphase zurück, die neben Selbstwahrnehmung auch Emotionsregulationsfähigkeit und Etablierung einer minimalen Sicherheit umschliessen. Mit letzterer ist sowohl eine Sicherheit in der therapeutischen Beziehung gemeint, als auch eine im privaten, äusseren Leben. Die Umstände müssen sicher genug sein, d.h. es darf sicherlich keine aktuelle Traumatisierung stattfinden und kein Täterkontakt bestehen. Falls das noch nicht der Fall ist, muss die Patientin darin unterstützt werden, in diesen Bereichen die Bedrohung zu stoppen. Erst wenn diese (und andere) Voraussetzungen erfüllt sind, macht es Sinn, mit einer schrittweisen Traumakonfrontation zu beginnen, z.B. mit EMDR.
Traumaverarbeitung (Konfrontationsphase). Das heisst, die traumatisierte Person muss die Fähigkeit haben, sich, ihren Körper und ihre Emotionen zu spüren und auszuhalten, ohne zu dissoziieren oder vollkommen überwältigt zu sein. Den für eine erfolgreiche Traumaverarbeitung braucht es ein Mindestmass an emotionaler Verarbeitungsfähigkeit und Containment (zu deutsch: Haltefähigkeit). Zwischen Konfrontationssitzungen braucht es oft wieder eine Zeit der Ruhe, des Ausgleichs, manchmal Wochen bis Monate. Natürlich findet eine Konfrontation mit Trauma wahrscheinlich in jeder Therapiesitzung statt, da Traumatisierte durch sehr Vieles getriggert werden können. Da ihr Nervensystem so sensitiv ist, ortet es in vielen Momenten Gefahr, wo für andere Menschen keine ist. Bereits der Umstand, einem Therapeuten gegenüber zu sitzen und dessen Aufmerksamkeit auf sich zu wissen, kann einen grossen Trigger darstellen. Und wir sprechen noch nicht einmal von Vertrauen oder Sicherheit.

Die dritte Phase - die Integrationsphase - hat keinen klaren Beginn, da im Grunde nach jeder Konfrontation (die ja auch schon in der Stabilisierungsphase beginnt) eine Integration geschehen kann. In dieser Phase geht es darum, zurück ins Leben zu kommen und auszuprobieren, wie der Kontakt mit sich und den Mitmenschen wieder hergestellt und aufrecht erhalten werden kann. Es gilt zu entdecken, wer ich denn bin jenseits des Trauma. Dieser Prozess kann spannend und erfüllend, aber auch schmerzhaft und ernüchternd sein. Was ist denn jetzt möglich, was ist das neue Normal?

In einer EMDR-Therapie beginnt man mit einem Überblick über die traumarelevanten Erinnerungen. Begriffe dazu sind 'Life Line' (aus der NET-Therapie), 'Traumalandkarte' oder 'Trauma-Anamnese'. Je nach Ansatz werden Traumata (und schöne Ereignisse) erfasst, manchmal auch symbolisiert, und bewertet ohne zu stark in die Tiefe zu gehen. Dieses Vorgehen erfüllt folgende Nutzen:

1. Es entsteht eine überschaubare Übersicht über das Unfassbare

2. Der Therapeut bekommt einen Eindruck aus erster Hand davon, wie der Patient reagiert, wenn er mit den belastendsten Erinnerungen konfrontiert wird, und wie er (im Moment und in den tagen danach) damit umgeht. Es gibt also Aufschluss über die emotionale Schwingungsfähigkeit und die Emotionsregulationsfähigkeit (und allenfalls die Strategien und Ressourcen, mit denen sich jemand wieder ins Gleichgewicht bringt)

3. Es entsteht eine Liste von Erinnerungen, die man mit EMDR abarbeiten kann

4. Es vermindert den ungewollten Überraschungseffekt, der eintreten kann, wenn während einer Konfrontation plötzlich eine andere traumatische Erinnerung getriggert wird, meist ohne das Wissen des Therapeuten. Speziell beim EMDR geschieht der Verarbeitungsprozess in der Black Box des menschlichen Gehirns, und bleibt so gegen aussen unsichtbar. Im EMDR versucht man wenn möglichst zu vermeiden, dass ein Patient in eine andere Trauma-Erinnerung abrutscht. Obwohl dies grundsätzlich nicht zu vermeiden ist, hat man sich zumindest zuvor schon Gedanken darüber machen, welche anderen Traumatisierungen womöglich miteinander zusammenhängen und getriggert werden könnten im Laufe der Exposition.

Es ist anzumerken, dass die Erstellung einer solchen Trauma-Anamnese bereits eine massive Exposition ist, und vom Therapeuten erst dann vorgeschlagen werden soll, wenn er den Patienten als stabil genug empfindet, mit den aufkommenden Emotionen zurechtkommen zu können (s. Voraussetzungen für Exposition). Bei DIS-Patienten ist dieses Vorgehen nicht zu empfehlen. Zudem gelten im EMDR klare Vorgaben dazu, wie man sicherstellt, dass der Traumatisierte bei dieser initialen Erhebung nicht in die Tiefe des Traumas wegrutscht - zum Beispiel indem man dem Geschehenen nur eine Überschrift gibt, und nicht auf die Details eingeht ("Wurde in der Schule jahrelang gemobbt"). Es empfiehlt sich zudem, während der Erhebung der Trauma-Anamnese immer wieder Stabilisierungs- und Distanzierungsübungen zu machen, und auch hilfreiche Ressourcen herbeizuziehen.

Als lohnenswerte Erweiterung der Trauma-Anamnese erhebe ich auch oft - natürlich nur, falls die Person auch genügend stabil ist - die sogenannten negativen Kognitionen (NK), die sozusagen die Essenz der Traumatisierung beschreiben. Was genau an diesem Vorfall war denn so schlimm für die Person? Dazu möchte ich  zunächst beschreiben, was mit negativen Kognitionen gemeint ist:

Negative Kognitionen werden im EMDR erfragt mit der Frage "Was ist das Schlimmste, was sie über sich in diesem schlimmsten Moment des Traumas denken können?". Die Frage führt oft zu initialer Verwirrung, und muss oft eine Weile erarbeitet werden, was aber sehr lohnenswert, und meiner Ansicht nach zentral ist. Es geht um die Selbst-Bewertung, den 'false belief' die Selbstüberzeugung, die aus dem Vorfall entstanden ist. Beispielsweise könnte jemand, der einen Raubüberfall über sich ergehen lassen musste, danach die Überzeugung erlangen: "Ich bin schwach, ohnmächtig und kann mich nicht wehren." Oder jemand, der von den Eltern ständig beschämt und erniedrigt wurde, kann die negative Kognition "Ich bin schlecht und nicht liebenswert" entwickeln.

Francine Shapiro, die Begründerin der EMDR Methode, hat diese negativen Kognitionen in vier Themenbereiche unterteilt:

1) Sicherheit / Überleben (Leitgefühl: Angst, Panik) 
 
2) Verantwortlichkeit / Schuld (Leitgefühl: Schuld, Scham) 
 
3) Selbstwert (Leitgefühl: Scham) 
 
4) Wahlmöglichkeiten / Entscheidung (Leitgefühl: Schwächegefühl)

Die Unterscheidung der verschiedenen Gruppen ist komplex, und oft nicht 100% trennscharf abzugrenzen. So geht es darum, Differenzierungen wie zwischen «Ich kann mich nicht wehren» (Wahlmöglichkeiten) und «Ich bin schwach» (Selbstwert) und «Ich bin ohnmächtig» (Sicherheit) herauszuarbeiten. Erfahrungsgemäss enthalten stark traumatisierende Erlebnisse multiple Kern-Themen, wie zum Beispiel Sicherheit (Ich bin hilflos ausgeliefert), Schuld/Scham (Ich bin ein Versager, ich bin alleine und verloren). Im Folgenden sind einige typische Sätze (negative Kognitionen) der vier Bereiche aufgelistet. Rechts sind die entsprechenden positiven Kognitionen aufgelistet. Eine längere Liste findet sich hier (Englisch).

1) Sicherheit / Überleben / Verletzlichkeit (Leitgefühl: Angst, Panik)

             Ich werde sterben                                    Ich (über)lebe
             Ich bin in Gefahr
                                     Ich bin sicher / Ich kann mich in Sicherheit bringen
             Ich kann niemandem vertrauen               Ich kann vertrauen

·       2) Verantwortlichkeit / Schuld (Leitgefühl: Schuld, Scham)

              Ich bin inkompetent                                Ich bin kompetent
              Ich bin schwach
                                      Ich bin stark / ich kann mir Hilfe holen
              Ich mache alles falsch                             Ich bin nicht perfekt und das ist ok

·      3) Selbstwert / Minderwertigkeit (Leitgefühl: Scha

                   Ich bin ein schlechter Mensch                  Ich bin ein guter Mensch
             Ich bin nicht liebenswert                          Ich bin liebenswert

             Ich bin nicht gut genug                             Ich bin gut genug

·       4) Wahlmöglichkeiten / Entscheidung (Leitgefühl: Schwächegefühl)

             Ich kann mich nicht wehren                    Ich kann mich wehren
             Ich habe keine Kontrolle                         Ich habe die Kontrolle
             Ich bin gefangen                                      Ich kann mich befreien, ich habe Optionen

Das Herausarbeiten der zutreffenden Kognitionen ist insbesondere von zentraler Wichtigkeit, wenn mit EMDR weitergearbeitet wird. Ich vergleiche EMDR manchmal mit einem potenten Laser, dessen Einsatz viel bewirken kann, wenn er optimal ausgerichtet ist. Bei mangelhafter Ausrichtung hilft auch der potensteste Laser nichts! Meiner Ansicht nach besteht die Kunst der EMDR Therapie in erster Linie darin, den Kern der Traumatisierung zu fassen zu kriegen. Die Durchführung an sich ist relativ einfach.

Wenn die Trauma-Anamnese dann einmal erhoben ist, ergeben sich oft aus den vielen Erlebnissen einige wenige Trauma-Cluster, bei denen es um dasselbe oder ein nahe verwandtes Kernthema geht. Die meisten Menschen – egal ob traumatisiert oder nicht – besitzen 3-4 Lebensthemen, die man sich in Form von Traumanetzwerken im Gehirn vorstellen kann. Das Gedächtnis sitzt - nicht wie früher geglaubt wurde – an einem bestimmten Ort im Gehirn, sondern muss vielmehr als Netzwerk verschiedener Aktivitätsmuster vorgestellt werden, wie eine Art Spinnennetz. Und so wie die Spinne bemerkt, dass eine Fliege irgendwo in ihr Netz geflogen ist, so bemerken auch wir sofort, wenn ein bestimmtes Netzwerk aktiviert worden ist. Auf diese Weise können Traumatrigger erklärt werden, die ja bekanntlich in allen möglichen Formen daherkommen, sei es Sinneswahrnehmungen, Situationen, Bilder, Gerüche, aber auch Gefühle oder Gedanken. Wenn man dann mit EMDR an einem Traumanetzwerk arbeitet, dann wird das gesamte Netzwerk bearbeitet. So kann es oft vorkommen, dass miteinander verwandte Traumata eine Linderung erfahren, auch wenn nur eines davon bearbeitet wird. Meist ist es dann aber trotzdem nötig, jedes einzelne gesondert zu behandeln. Aber es gibt einen gewissen Generalisierungs- und Übertragungseffekt.  

Zusammenfassung:
Die in der EMDR gebräuchliche Methode einer Trauma-Anamnese kann dazu beitragen, auch bei nicht traumatisierten Patienten in relativ kurzer Zeit ein gutes Verständnis über die essentielle Problematik des Patienten zu erhalten. Durch die Erhebung der belastendsten Ereignissen ensteht eine Traumalandkarte, aus der die negativen Überzeugungen herausgearbeitet werden können. Diese schliessen sich oft zu einigen wenigen Clustern zusammen. Auf diese Weise kann ein kohärenter Therapieplan entstehen, der natürlich immer durch den Patienten validiert werden muss.