Dienstag, 14. Juni 2022

Die beste Übung der Psychotherapie

Ich möchte hier eine Wahrnehmungsübung vorstellen, die ich als sehr hilfreich für die verschiedensten Bereiche erlebt habe. Aber dazu später. Zuerst stelle ich die Übung kurz vor, und gehe dann im Anschluss auf die Idee dahinter und den möglichen Nutzen ein.

Setzen Sie sich an einen bequemen Ort hin, wo Sie möglichst für die nächsten 5-10 Minuten nicht gestört werden. Achten Sie auf Ihren Atem und erlauben Sie sich tief und lange auszuatmen, in Ihrem eigenen Rhythmus. Wiederholen Sie das einige Male, und wenn Sie mögen, lassen Sie ihre Schultern, Arme, Gesichtsmuskeln und weitere Anspannungen mit jedem Ausatmen in den Boden sinken. Geben Sie sich so viel Zeit, bis Sie merken, dass genügend innere Ruhe vorhanden ist, sich auf die Übung zu konzentrieren.
Jetzt richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die folgenden Bereiche, das erste Mal vielleicht der Reihe nach, bei wiederholter Durchführung auch «Free Style», in beliebiger Reihenfolge. 

 

  • 5 Sinne                             Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken
                Bsp. «Ich sehe den Teppich vor mir» «Ich höre Schritte im Gang.» «Ich  
                spüre den warmen
    Stuhl an meinem Rücken», «Ich rieche etwas
     Unangenehmes», «Ich schmecke Kaffee auf meiner Zunge», etc.
  • Denken                             Erinnerungen, Vergleiche, Bewertungen, Interpretationen, Erklärungen, etc.
     Bsp. «Ich überlege, ob ich die Übung richtig mache.» «Ich denke, dass ich 
     das
    wahrscheinlich schnell lerne, da es ja recht einfach aussieht.» «Ich frage
     mich, was daran denn so hilfreich sein soll.»
  • Körpersensationen     Beschreiben, was im Körper drin spürbar ist (auch mit Bildern, Metaphern)
                                                Bsp. «Mein Bauch blubbert», «Ich spüre einen Druck auf der Brust», «Ich habe
     stechende Kopfschmerzen und einen leichten Schwindel» «Es fühlt sich an,  
     wie wenn jemand mich
    runterdrücken würde.»
  • Gefühle                            Angenehm vs. unangenehm, falls kein Gefühl vorhanden ist oder eine unklare
     Mischung, ist das sehr normal – Nehmen Sie das zur Kenntnis ohne zu  
     bewerten
    «Ich fühle mich gestresst», «Ich bin traurig», «Ich bemerke, wie ich  
     etwas ärgerlich
    werde», «Ich bin verwirrt und etwas ratlos», «Ich spüre jetzt
     im Moment nichts Besonderes»
  • Verhaltensimpulse      Was möchte der Körper jetzt tun, welche Haltung, Bewegung, in welche
     Richtung, mit welcher Intensität, etc.? Es geht um instinktive Impulse des 
     Reptilienhirn, die ohne aktives
    Denken entstehen. Falls Ihnen das schwerfällt, 
     können Sie sich auch vorstellen, ein Tier zu sein: Wie würden Sie sich jetzt als 
     Tier verhalten?

                                                Bsp. «Ich würde mich jetzt am liebsten einrollen und unter meiner Decke im
     Bett verkriechen», «Ich könnte jetzt schreien und dreinschlagen», «Ich würde 
     am liebsten davonrennen», «Meine Beine wollen sich irgendwie bewegen.» 
     «Ich möchte meinen Kopf am
    liebsten ablegen» «Ich würde jetzt am liebsten  
     alleine sein.» «Ich hätte jetzt gerne, wenn Sie
    einen Moment ruhig wären und 
     ich nichts sagen müsste.»

Wenn ich die Übung mit meinen Patienten durchführe, dann wechseln wir jeweils ab, d.h. ich mache vielleicht den ersten Durchgang – auch um eine Idee zu haben, wie das gemeint ist – und der Patient macht den nächsten Durchgang, abwechslungsweise. Auf diese Weise wird auch die Beziehung (mit ihrer Kraft der Co-Regulation) mit ins Spiel gebracht. Nach einigen Durchgängen stoppen wir und ich frage nach, wie es dem Patienten geht. Ich achte mich dabei insbesondere darauf auf die Aktivierung und Verbindung zu sich selbst, und welche Ebenen er bei sich gut wahrnimmt und welche weniger. Falls intensive Gefühle oder Reaktionen auftauchen, gebe ich diesen natürlich Raum und helfe sie zu regulieren, bevor die Übung fortgesetzt wird. 

Welche Bereiche werden trainiert durch diese Übung?

  • Fähigkeit zur nicht wertenden Selbstbeobachtung (Achtsamkeit, Selbst-Bewusstsein)
    Die Fähigkeit, sich selbst aus einer Beobachterperspektive zu betrachten, ohne zu bewerten, was wahrgenommen wird, gehört zu den fundamentalsten Werkzeugen in der Psychotherapie. Es ist die zentrale Überlappungszone zwischen Psychotherapie und Zen-Meditation und hat eine sehr lange Tradition. Es ist auch eine Fähigkeit, die uns Menschen mit unserem einzigartigen Frontalkortex von Tieren unterscheidet. Wir können uns unser selbst bewusst sein, können uns auf eine Meta-Ebene begeben und abstrahieren (Sprache, Symbole). Dadurch entstehen Distanz und Regulation.
  • Distanzierungsfähigkeit
    Die oben beschriebene Fähigkeit der Selbstbeobachtung hat zur Folge, dass wir uns aus einer Distanz betrachten – als Beobachter unserer selbst. Das schafft Distanz zu Gefühlen und Wahrnehmungen, und erlaubt einen anderen Umgang damit. Insbesondere wenn es um starke unangenehme Gefühle geht, ist es hilfreich, sich als getrennt vom Gefühl wahrzunehmen. Das Gefühl kommt und geht wieder, wie eine Welle, die sich aufbäumt und wieder verebbt. Und wir sind hier und lassen es geschehen.

  • Aushalten von Gefühlen und Sensationen
    Die hier beschrieben Übung lädt ausdrücklich dazu ein, sich den Gefühlen und Sensationen gegenüber zu öffnen, und ihnen mit Interesse und Neugier zu begegnen. Dies mag für viele kontraintuitiv erscheinen, da man die unangenehmen Gefühle unter Kontrolle bekommen möchte anstatt noch mehr davon zu spüren. Das Paradox dabei ist jedoch, dass die Gefühle in ihrer Intensität an Bedrohung verlieren, je öfter wir ihnen begegnet sind und sie erfolgreich ausgehalten haben. Wie Bessel van der Kolk in seinem Buch «Verkörperter Schrecken» sagt: «
    Vermeiden von Körperbewusstsein erhöht die Vulnerabilität für überflutende Erfahrungen». Natürlich gibt es hier Grenzen, und vor allem für Traumatisierte gelten hier auch etwas andere Regeln, und ich würde eine solche Übung nicht empfehlen, alleine zuhause durchzuführen. Das Aushalten und Wahrnehmen von Gefühlen und Sensationen kann durchaus mit dem Gewichte-Heben im Fitnessstudio verglichen werden: Es trainiert den Muskel, und als Nebeneffekt wächst auch die Zuversicht in die eigene Fähigkeit. Wir müssen lernen, auf der Welle der Emotionen zu reiten, wie ein Surfer!
  • Benennen und Differenzieren von Phänomenen
    Die Übung hilft auch, die eigenen Erfahrungen besser einzuordnen und auseinanderzuhalten. Insbesondere hochsensible und traumatisierte Menschen erleben ihre Erfahrungen oft als überwältigende Riesenwellen, die kaum differenziert sind, und sich meist aus einer Vielzahl von Sensationen und Gefühlen zusammensetzen. Wenn es gelingt, diese zu benennen, einzuordnen und auseinanderzuhalten werden sie fassbar und verlieren an Bedrohlichkeit. Zudem konnte in zahlreichen Studien belegt werden, dass nur schon durch das Benennen von Emotionen die Selbstregulationsfähigkeit des Gehirns zunimmt (und sich Gehirnstrukturen wie die Insula und der mediale Präfrontalkortex strukturell verändern).
  • Fähigkeit zur Selbstregulation, respektive Selbstberuhigung
    Die Fähigkeit, sich und seine Emotionen zu regulieren bedeutet, einerseits wahrzunehmen, was los ist, es auszuhalten und zu lernen, was einen bei der Bewältigung helfen könnte. All diese Aspekte werden in der Übung ebenfalls abgedeckt. Einzig der soziale Aspekt bei der Umsetzung fehlt, also beispielsweise jemanden um Hilfe zu bitten oder sich zu wehren oder ähnlich. Insgesamt geht es hier um die Fähigkeit, das innere Gleichgewicht wieder herzustellen.
  • Verbindung zu sich stärken
    Wer die Verbindung zu sich selbst stärkt, kann sich wahrnehmen und bei sich verweilen. In der Polyvagaltheorie von Stephen Porges entspricht dies dem ventral-vagalen Zustand der sozialen Verbundenheit. Mit einer solchen Verbundenheit gehen Phänomene wie «Innere Ruhe», «Ankommen», «Einfach Sein», guter Orientierung (ich weiss und spüre im Körper, was ich will und was nicht), und sozialer Verbundenheit einher: «Ich kann einfach Ich sein und ohne Angst auf andere Menschen zugehen, ihnen in die Augen blicken und mit ihnen in Kontakt kommen». Eine innere Erfülltheit und Gelassenheit.

Anmerkung:
Verschiedene Therapieschulen haben ähnliche, nur leicht unterschiedliche Ebenen der Selbstwahrnehmung definiert. Genannt seien das SIBAM-Modell von Peter Levine (S=Senses, I=Images, B=Behavior, A=Affect, M=Meaning), oder das BASK-Modell von Bennett Braun zur Dissoziation (B=Behavior, A=Affect, S=Sensations, K=Knowledge) oder das Polarity-Therapie-Modell von Randolph Stone mit den drei Ebenen Gedanken, Emotionen & [Körper-]Empfindungen: Der Neo-Cortex als Vernunftebene, das limbische System als Emotionszentrum und das Reptilienhirn als Körperebene. Welches Modell praktiziert wird, kann jede*r selber entscheiden. Worauf es ankommt, ist, dass wir unser möglichst in allen Ebenen wahrnehmen lernen. So kann Integration entstehen.