Die Polyvagaltheorie kann als Paradigmenwechsel in der Psychotherapie betrachtet werden. Sie eröffnet nicht nur eine neue Betrachtungsweise von Trauma, sondern sie liefert auch valable Erklärungsansätze für psychiatrische Diagnosen und ganz generell für das Verständnis von Denken, Wahrnehmen und Fühlen des Menschen. Zudem leistet sie einen Beitrag an das Leib-Seele Problem, und sichert in der Praxis etablierte Interventionsmethoden und Einsichten wissenschaftlich ab. Die Polyvagaltheorie handelt vom menschlichen Nervensystem und versteht viele psychologische Phänomene als Folgen des biologischen Aktivierungszustandes des Nervensystems.
Stephen Porges erklärt die Polyvagaltheorie in 4
Minuten: Was ist die
Polyvagaltheorie? (mit deutschen Untertiteln)
Neurozeption
oder: Wie erkennen wir Gefahr oder Sicherheit?
Mit
dem neuen Begriff Neurozeption beschreibt Begründer Porges die
Wahrnehmungsmöglichkeiten des menschlichen Organismus, Gefahr (oder auch
Sicherheit) zu erkennen. Dieser unbewusste Prozess geschieht kontinuierlich und
ohne jegliche Anstrengung. Stellen Sie sich ein Radarsystem vor, das unsere
Umwelt unaufhörlich abscannt, und Informationen an das Gehirn und die Organe
sendet. Je nach Rückmeldung und Einstufung als gefährlich oder sicher wird der
Körper autonom – also ohne bewusste Steuerung – bestmöglich auf die aktuelle
Situation angepasst. Wenn es sicher scheint, setzen Entspannungsprozesse ein,
wenn es gefährlich werden könnte, wird Energie für eine Handlung mobilisiert
und die Wahrnehmung geschärft, und wenn weder Flucht, Verteidigung oder Kampf
gewinnbringend scheint, geht der Körper in eine Erstarrung über als eine letzte
Überlebensmöglichkeit.
Die drei Zustände des Autonomen Nervensystems (ANS)
· SOCIAL ENGAGEMENT SYSTEM = zu Deutsch das soziale Bindungssystem. Dieses entspricht einem Zustand der Sicherheit und wird durch den ventralen Vagus aktiviert. Dadurch werden Hormone/Neurotransmitter wie Oxytozin oder Serotonin freigesetzt. Dieser ventral-vagale Zustand steuert Bereiche oberhalb des Zwerchfells, vor allem jene, die wir für soziale Aktivitäten benötigen: Gesicht, Mund, Kehlkopf, Rachen und Mittelohr sowie das Herz. Es wird mit Entspannung, Spiel, Kreativität, Verdauung, Ausruhen und einer verstärkten Verbindung zu sich selbst und anderen (und damit auch verstärktes Mitgefühl und Empathie) in Verbindung gebracht. Evolutionsgeschichtlich ist dieser Zustand der jüngste und auch derjenige, der Säugetiere von Reptilien und anderen älteren Lebensformen unterscheidet.
· FIGHT / FLIGHT REAKTION = zu Deutsch Kampf oder Flucht. In diesem Zustand der sympathischen Aktivierung ist unser Körper aktiviert und handlungsbereit. Die Ausschüttung von Adrenalin, Cortisol und Noradrenalin führt zur Einengung des Fokus (auf die Gefahr), Erhöhung des Blutdrucks, der Atemfrequenz und der Herzrate, und zur Verminderung der Verdauungsaktivität und Speichelproduktion. Unser Körper ist bereit, sofort zu reagieren, er ist sozusagen geladen und damit auch angespannt.
· FREEZE = zu Deutsch Erstarrung, Immobilisierung. Dieser parasympathische Zustand wird durch den dorsalen Teil des Vagusnerv aktiviert und regelt überwiegend die inneren Organe, die unter dem Zwerchfell liegen: den Magen, Teile des Darms, die Leber und die Nieren. Entwicklungsgeschichtlich handelt es sich um den ältesten Teil, die basalste Form der Reaktion. So verfügen auch Einzeller über diese Form der Reaktion auf Gefahren. Bei Tieren ist die Reaktion als Totstellreflex bekannt. Das Hauptziel dieses Zustandes ist ein Überleben, wenn Kampf oder Flucht nicht mehr verfügbar sind. So werden alle wichtigen Funktionen auf ein Minimum gedrosselt (Herzrate, Blutdruck, Atemfrequenz, Muskeltonus, etc.). Endorphine vermindern die Schmerzempfindlichkeit und führen zu einem Gefühl der Taubheit. Der Fokus der Wahrnehmung und damit die Orientierung gehen verloren («leerer Blick»), Gesichtsausdruck wird unbeweglich, die Stimme wird monoton, das Gehör wird empfindlicher auf extrem tiefe und hohe Frequenzen (erhöhte Lärm-Empfindlichkeit).
Auf der Grafik (nur in Englisch) sind ebenfalls auch die üblichen Gefühle aufgelistet, die mit den Zuständen assoziiert sind. Was ich hier besonders hervorheben möchte ist, dass diese Gefühle, Wahrnehmungen und körperlichen Prozesse alles Folgen der Neurozeption, bzw. des Zustandes des Nervensystems sind, und nicht umgekehrt. Wir haben Angst, weil wir sympathisch aktiviert sind, und nicht umgekehrt. Der körperliche Zustand bestimmt das Gefühl und wie wir darüber denken. Unser Gehirn bildet im Nachhinein eine Story, die zum Körpergefühl passt. Diese nachträgliche Sinngebung kann folgendermassen verdichtet werden:
· Soziales Bindungssystem (Sicherheit) / ventral-vagal / parasympathisch = «Ich bin» (Sein, Entspannung, Verbundenheit)
· Gefahr / sympathisch = «Ich kann» oder «Ich muss» (Wahlmöglichkeit oder Druck, Dringlichkeit)
· Erstarrung / Todesgefahr / dorsal-ventral / parasymathisch = «Ich kann nicht» (Hoffnungslosigkeit, Depression, Resignation)
Co-Regulation und ihre Aufgabe
Stephen Porges erklärt die Polyvagaltheorie in 4 Minuten: Was ist die Polyvagaltheorie?
Polyvagaltheorie und Trauma
Bedeutung der Polyvagaltheorie für die Psychotherapie
· Die Polyvagaltheorie eröffnet neue Interventionsmöglichkeiten, welche physiologische Veränderungen unterstützen, und welche ihrerseits auch zu Veränderungen in der Gesundheit und Beziehungsvitalität führen. Dabei geht es vor allem darum, sich mehr mit dem Körper zu verbinden. Wir wissen, dass die Verkörperung, das wirkliche Sein im eigenen Körper und die Aufmerksamkeit auf die Signale des Körpers ein großer Teil der Heilung sind.
· Je mehr verbunden und verkörpert wir sind, umso besser funktioniert der Informationsfluss zwischen Gehirn und Organen (oder Frontalhirn, Limbischem System und Stammhirn) und damit umso besser ist das Wissen verfügbar darüber, was uns guttut, was wir brauchen und wollen und was nicht. Dies sind die Grundlagen für eine gesunde Selbstregulierung.
· Je mehr verbunden und verkörpert wir sind, umso besser der Energiefluss in unserem Körper und umso lebendiger fühlen wir uns und umso mehr Energie steht uns zur Verfügung.
· Anhand von spezifischen Übungen zur Aktivierung des ventralen Vagus können wir erlernen, uns zu beruhigen.
· Die lange belächelte und nicht voll genommene Körpertherapie erhält gewichtige wissenschaftliche Fundierung.
· Verhalten, Symptome und Erleben können als Folge des Zustandes des Nervensystems verstanden werden. So muss die Ätiologie und das Verständnis vieler psychiatrischer Diagnosen neu überdacht werden und als potentielle Folgen eines suboptimal funktionierenden Nervensystems betrachtet werden. Dazu gehören Phänomene, die bisher durch kognitive Prozesse erklärt wurden oder als genetisch vererbbar gegolten hatten (Autismus, ADHS, Angst, Depression, bipolare Störung, etc.).
· Polyvagaltheorie liefert die wissenschaftliche Erklärung folgender Aspekte
o Zentrale Bedeutung der sozialen Verbindung (wirkt beruhigend) – social engagement system
o Zentrale Beziehung der Selbstregulation des Therapeuten (Co-Regulation)
o Window of tolerance: Interventionen sollen auf Zustand des ANS des Patienten abgestimmt sein
Resilienz
Unter Resilienz
versteht man die Fähigkeit eines Menschen, widerstandsfähig auf Belastungen zu
reagieren. Die Polyvagaltheorie definiert Resilienz als Fähigkeit des Nervensystems,
Belastungen und die damit verbundene Aktivierungsenergie zu erleben, zu
verarbeiten und zu integrieren. Auch hier findet sich eine Analogie zum Körper:
Resilienz wird oft anhand der Herzratenvariabilität gemessen. Je mehr
Variabilität unser Herz fähig ist zu produzieren, umso höher die Resilienz, mit
Stress-Situationen umgehen zu können. Mit anderen Worten: Je mehr wir fähig
sind, unangenehme Gefühle zu spüren und auszuhalten, umso stärker und
resilienter sind wir. Mit diesem Lieblingsparadoxon möchte ich diesen Beitrag
beenden: Um Dich stark fühlen zu können, musst Du lernen, Dich schwach zu fühlen.