Freitag, 30. Oktober 2020

Behandlung von belastenden Erinnerungen mit EMDR

Was ist EMDR?
EMDR  bedeutet  "Eye  Movement  Desensitization and  Reprocessing" und wurde  1987-1989  von der Amerikanischen  Psychologin  Dr. Francine Shapiro  zur  Behandlung von Traumata  entwickelt. Durch schnelle horizontale Augenbewegungen  (L-R) wird im Gehirn die Verarbeitung von Gedächtnisinhalten gestartet. Wird eine belastende Erinnerung so durcharbeitet, sinkt die Belastung (im besten Fall) andauernd ab. Was zunächst simpel klingt, ist eine komplexe und umfangreiche Psychotherapiemethode, bedarf einer mehrjährigen  Ausbildung,  zu der aktuell nur anerkannte Psychotherapeuten zugelassen sind. Als ich zum ersten Mal von den unglaublichen Heilungserfolgen  von  EMDR hörte, war ich zugegebenermassen sehr skeptisch. Mittlerweile bin ich davon überzeugt,  dass EMDR eine sehr effektive Therapiemethode  für Trauma ist und ein mächtiges Instrument zur gründlichen und schnellen Durcharbeitung von Emotionen. EMDR funktioniert für die meisten Menschen.

Geschichte
Die Amerikanische Psychologin stiess 1987 durch Zufall auf die Wirkung der Augenbewegungen. Sie hatte damals soeben selber eine schwierige Diagnosestellung erhalten und  machte zum "Verdauen" der Neuigkeiten einen Spaziergang im Park des Spitals. Dabei bewegte sie ihre Augen (zufällig) schnell hin und her. Nach zehn Minuten war ihre Belastung plötzlich wie verschwunden. Shapiro war so beeindruckt, dass sie in den darauffolgenden Jahren EMDR daraus entwickelte. Später fanden Shapiro und Kollegen heraus, dass der Effekt nicht ausschliesslich durch Augenbewegungen hervorgerufen werden kann, sondern dass das eigentliche Wirkprinzip die bilaterale Stimulation ist. Doch der Name EMDR hatte sich bereits so stark etabliert, dass sie auf eine Namensänderung verzichteten. Heute hat der Patient die Wahl, ob er EMDR mit Augenbewegungen, alternierenden  Tönen  (mit  Kopfhörern) oder mit einem vibrierenden Gerät ("EMDR Buzzies") machen möchte.


Wirkprinzipien
Interessanterweise ist die Wirksamkeit sehr gut belegt, nicht aber die exakte Wirkweise von EMDR. Bislang existieren lediglich Hypothesen.
• Ankurbeln der Verarbeitung von Gedächtnisinhalten, ähnlich wie im REM-Schlaf
• Informationsverarbeitungssystem im Zentralnervensystem (ZNS) wird aktiviert. Durch die 
  Reizüberflutung während einer traumatischen Situation scheint dieses  System zum Teil blockiert zu
  werden.
• EMDR löst eine Orientierungsreaktion aus und führt so direkt zu einer Desensibilisierung und
  Verarbeitung der traumatischen Erinnerung
• EMDR fördert den bilateralen Datenaustausch zwischen den Hirnhälften. So können
  unverarbeitete Erinnerungen verarbeitet werden.

Langsame vs. schnelle Stimulation
Mit langsamer Stimulation werden vorhandene Phänomene verstärkt  oder verankert. Diese Effekte sind nur temporär. Diese Technik kommt bei einer ersten Testsitzung zum Einsatz (sog. Absorptionstechnik) oder beim Abschluss einer erfolgreichen EMDR-Sitzung (sog.Verankerung). Mit schneller Stimulation wird die Verarbeitung gestartet, also die eigentliche EMDR-Behandlung. Diese Effekte sind andauernd.


Wirksamkeit
Die EMDR-Methode hat sich als eine effektive und zeitökonomische Behandlungsmethode für die posttraumatische Belastungsstörung etabliert. Heute ist in fast jedem zivilisierten Land eine EMDR Ausbildungsstätte zu finden. Über die PTBS hinaus gibt es zunehmend positive Erfahrungen mit anderen Störungsbildern. In den 30  Jahren ihres Bestehens hat sich EMDR zur Therapiemethode mit  den meisten kontrollierten und unkontrollierten Therapiestudien zur Behandlung von PTBS entwickelt. Die Effekte sind andauernd und heben sich deutlich von Placeboeffekten ab. Mit anderen Worten: Es funktioniert auch, wenn man nicht daran glaubt. Bei der EMDR-Behandlung einer Person mit einer einzelnen Traumatisierung reichen in der Regel wenige Sitzungen,  wenn keine starken Vorbelastungen vorliegen.  Bei der Behandlung  von Personen, welche eine sequentielle Traumatisierung über einen längeren Zeitraum hinweg erlebt haben, braucht es für die Stabilisierungsphase einen längeren Zeitraum. Diese Phase kann Wochen bis Jahre dauern.


Anwendungsfelder
• Monotrauma (einzelnes Ereignis)
• Komplexes Trauma (sich über längere Zeit wiederholende Ereignisse). Dazu gehören körperlicher, emotionaler und sexueller Missbrauch, Kriegserlebnisse u.a.
• Bindungsstörung / Entwicklungstrauma: Bearbeiten von prägenden Beziehungserfahrungen
• Depression: Bearbeitung der den Identifikationen zugrunde liegenden Erfahrungen
• Angst, Panikattacken, Phobie: Bearbeitung der zugrunde liegenden Erfahrung
• ADHS: Verarbeiten von selbstwert-belastenden Ereignissen
• Asperger Syndrom: Verarbeiten von selbstwert-belastenden Ereignissen
• Zwangsstörung: Bearbeitung der zugrunde liegenden Erfahrung
• Trauerprozesse: Bearbeiten von hartnäckigen Trauererfahrungen


Ablauf einer EMDR Behandlung bei Traumatisierung
Der Ablauf einer Behandlung gliedert sich in 8 Phasen. Im besten Fall kann nach wenigen Sitzungen mit dem Bearbeiten der Erinnerungen begonnen  werden. Die folgenden 8 Phasen gehören in jede EMDR Behandlung:

1. Gründliche Anamnese - Auflistung - nicht Vertiefung! - von belastenden Ereignissen - Diagnosestellung (allenfalls Traumadiagnostik) mit besonderem Fokus auf allfällig Dissoziation - Indikation und Behandlungsplan
2. Vorbereitung - diese Phase kann zwischen wenigen Sitzungen und Jahren dauern! - Ausführliche Aufklärung und Information über Behandlung - Prüfen/Erlernen von Emotionsregulationsmechanismen - Erlernen von Stabilisierungstechniken, Erkunden des Kontakts zum Körper und Gefühlen - Testsitzung mit positivem Material (sog. Absorptionstechnik), mit langsamer Stimulation
3. Bewertung einer ausgewählten Erinnerung (Bild, Gedanken, Emotion, Belastung, Körper)
4. Reprozessierungmit schneller bilateraler Stimulation, bis Belastung verschwunden ist
5. Verankerung der positiven Gedanken/Körperempfindung mit langsamer Stimulation
6. Körpertest- Die PatientIn scannt den Körper nach Bereichen des Unwohlseins oder Schmerzen
7.  Abschluss - Die Patientin soll immer in einem stabilisierten  Zustand die Sitzung  verlassen, auch wenn die Bearbeitung der Erinnerung noch nicht komplett abgeschlossen ist, d.h. wenn noch eine Restbelastung übrig bleibt.  Dazu stehen zahlreiche Stabilisierungs-Techniken zur Verfügung.
8. Überprüfung und Planung in der nächsten Sitzung

Die eigentliche Bearbeitung der Erinnerungen findet in einer 60-90 Minütigen Sitzung statt (Phasen 3-7).
Anmerkung: Anstelle der oft ermüdenden Augenbewegungen kann EMDR mithilfe eines vibrierenden Geräts (EMDR “Buzzies”) durchgeführt werden.

Bedingungen für eine EMDR Behandlung
• PatientIn sollte sich idealerweise in einer "relativ" stabilen Lebensphase befinden, d.h. aktuell keine tiefgreifenden Lebensereignisse wie Wohnungswechsel, Abschlussprüfung, Trennung/Scheidung, Schwangerschaft, Geburt eines Kindes, Entzugsbehandlung, etc.
• Ausreichende   Selbstregulierungsmechanismen   (da   Behandlung   ambulant   durchgeführt wird), d.h. Fähigkeit, belastende Gefühle zulassen zu können und wieder von alleine in eine psychische Ausgeglichenheit kommen zu können
• Keine andauernde Missbrauchsbeziehung
• bei ADHS Patienten: Medikamentöse Behandlung als Voraussetzung
• Ausschlusskriterien:  Psychose,  Epilepsie,  akute  Suizidalität,  permanenter  Drogeneinfluss, permanenter Benzodiazepinkonsum

Links
• EMDR Schweiz emdr-schweiz.ch  - mit Liste von anerkannten EMDR TherapeutInnen in der Schweiz

Foto: Vielen Dank an Patrick Brinksma.

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