Freitag, 30. Oktober 2020

Körperintelligenz oder 'das menschliche Instrument'

Wir leben in einem Zeitalter der digitalen Revolution. Dieser technische Fortschritt erlaubt es uns, Daten über unser Verhalten zu sammeln und auszuwerten. Die Gadgets nennen sich Wearables - weil man sich praktisch ums Handgelenk tragen kann, während sie einen überwachen und Schritte, Puls oder andere Parameter erheben. Andere Apps erfordern eine manuelle Dateneingabe, z.B. für Essverhalten oder ähnliche Dinge. Dieser Vorgang der Datenerfassung und -auswertung stellt eine Quantifizierung unseres Verhaltens dar. Was auf den ersten Eindruck Sinn macht, kann sich meiner Meinung nach auf längere Zeit fatal auswirken. Zuallererst verstehe ich nicht, weshalb man Funktionen outsourcen soll, wenn jeder Mensch diese auch selber ausführen kann. Denn wir besitzen ein körpereigenes 'Instrument', das uns darüber Aufschluss gibt, ob wir müde sind, Hunger haben, nervös sind oder nicht genügend geschlafen haben. Für unsere Entscheidungsfindung im Alltag benötigen wir keine quantifizierbaren Daten, wir machen es intuitiv. Wir spüren es irgendwie, wenn wir uns die Zeit nehmen und bewusst darauf achten. Natürlich ist diese Fähigkeit nicht bei jedem Menschen in gleichem Masse ausgeprägt. Es gibt viele Menschen, die abgeschnitten sind von ihren Gefühlen und ihrem Körper. Ich denke da beispielsweise an Menschen mit Suchtproblemen, Traumatisierungen oder Menschen mit Autismus. Interessanterweise haben diese Personen oft Probleme mit persönlichen Entscheidungen und es fällt ihnen schwer, zu wissen, was sie wollen oder was gut für sie wäre. Der Grund dafür ist, dass sie den Kontakt zu ihrem eigenen Informationszentrum verloren haben, dem körpereigenen Instrument, das ich zuvor erwähnt habe. Wer nicht weiss, was ihm/ihr guttut, der hat in der Folge auch Mühe im Umgang mit seinen Gefühlen. Denn um unsere Gefühle zu regulieren, greifen wir auf die intuitiven Impulse und Bedürfnisse zurück, die wir vom Körper erhalten. Als Beispiel für einen solchen Handlungsimpuls nenne ich ein Trauergefühl. Der Handlungsimpuls könnte hier beispielsweise sein, sich ins warme Bett zu kuscheln und sich die Decke über den Kopf zu ziehen und ganz alleine zu sein. Dieser Handlungsimpuls ist jedoch nicht zu verwechseln mit der Idee, was jetzt wohl das Schlauste zu tun wäre. Die Idee entspringt dem Denken, und der Handlungsimpuls dem Körper, oder dem ‘Bauch’, wie manche sagen. Die Idee ist ein ‘Top-Down-Prozess’ und der intuitive Handlungsimpuls ein ‘Bottom-Up-Prozess’.

Als weiteres Beispiel dafür, was passieren kann, wenn wir unser körpereigenes Navigationsinstrument ignorieren, kann das allgegenwärtige Phänomen des Burn-Outs genannt werden. Was uns Menschen von Affen unterscheidet, ist unser Präfrontalkortex, der uns erlaubt, Handlungen zu planen und Impulse aufzuschieben. Wenn wir das nicht könnten, würden wir bei jeder Ablenkung die Arbeit fallen lassen und uns bei jeder Müdigkeit oder bei jedem Motivationsverlust hinlegen, etc. Wir haben also die Fähigkeit, weiterzuarbeiten, obwohl wir müde sind. Nur tun wir das in solch extremem Masse, bis es irgendeinmal einfach nicht mehr geht. Ich vergleiche das oft mit einem Auto, bei dem die Anzeige leuchtet, dass es Benzin oder Öl braucht. Und indem wir die Anzeige ignorieren, und uns sagen «So schlimm kann es ja nicht sein, der Wagen fährt ja noch», schneiden wir uns von unserer Intuition ab und entfremden uns von uns selber. Menschen mit Burn-Out müssen wieder lernen, ihr Instrument zu lesen und ernst zu nehmen: Körpersensationen und Bedürfnisse wahrnehmen und die eigenen Grenzen spüren.

Glücklicherweise ist die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung trainierbar, beispielsweise mit Hilfe von Achtsamkeits-Meditation, Yoga oder in einer Psychotherapie, nur um einige Möglichkeiten zu nennen. Durch die Verbesserung der Selbstwahrnehmung und Selbstregulierung, profitiert die psychische Gesundheit und die Stabilität eines Menschen.

Daher plädiere ich von ganzem Herzen für die Entwicklung der körpereigenen Instrumente anstelle von Apps und Wearables.

Wir brauchen keine zusätzliche Abhängigkeit, und - obwohl das Anschauen und Vergleichen von Daten durchaus einen Reiz haben kann - quantifizierbare Daten bergen meiner Meinung nach mehr Risiko als Gewinn: So können persönliche Daten von Versicherungen, Arbeitnehmern oder schlimmstenfalls von einer kontrollierenden Regierung (wie China) verwendet werden. Ferner bringt der Vergleich mit dem statistischen Durchschnitt meist wenig. Viel aussagekräftiger wäre ein intraindividueller Vergleich, womit auch die individuelle Entwicklung gewürdigt werden kann. Die Auswertung von messbaren Daten greift viel zu kurz, wenn es um das Erklären von persönlichen Unterschieden geht. Denn das menschliche Erleben und Verhalten sind sehr komplex, und die Einflussvariablen auf unsere Lernprozesse bisher nicht durch künstliche Intelligenz reproduzierbar. Wahrscheinlich wird es in naher Zukunft möglich sein, menschliche Funktionen mit AI (Artificial Intelligence / Künstlicher Intelligenz) zu erweitern und zu verbessern. Konzepte wie ‘augmented reality’, bzw. 'Erweiterte Realität' deuten auf eine klare Entwicklung in diese Richtung hin. Ob dieser Fortschritt dem Menschen zu Gute kommen oder schaden wird, hängt von den Interessen der Geldgeber und Mächte ab. Wer seine Körperintelligenz zu nutzen weiss, der wird ein autonomeres selbstbestimmteres Leben führen können. Soviel ist sicher.

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